Ein kluges und mutiges Bilderbuch von Martin Baltscheit und Christine Schwarz über Gerüchte, üble Nachrede und Co. sowie das, was sich daraus entwickeln kann … toll!
Titel: Schon gehört?
Autoren: Martin Baltscheit/Christine Schwarz
Verlag: Beltz Verlag, 2014
Genre: Bilderbuch
Kurzinhalt von „Schon gehört?“ von Martin Baltscheit:
Martin Baltscheit und Christine Schwarz ist ein großer (Bilderbuch)Wurf gelungen: Ein Flamingo steht am See und schläft. „Rosa Flamingo. Tiefblauer Schlaf.“ Bemerkt im Schlaf nicht den Storch, der vorbeikommt und „Hallo!“ sagt. Beim Storch wiederum kommt das Nichtreagieren des Flamingos gleich als Beleidigung an („Du redest wohl nicht mit jedem?“) und seine Reaktion ist Unwille, Verdruss, Unterstellung: „Bist vielleicht was Besseres? Trägst Schuhe aus Lack und Federn aus Gold.“
Als auch die grüßende Ente keine Reaktion beim schlafenden Flamingo erzielt, unterrichtet der Storch die Ente sogleich über seine „Erkenntnisse“, den schlafenden Flamingo betreffend, und fügt sogar hinzu: „Hat bestimmt seine Mutter an den Zoo verkauft.“ Auch die Ente „weiß“ noch etwas über den Flamingo zu berichten, das sie dem Storch mitteilt: „Und jetzt frisst er Garnelen. Hundert am Tag und wird fett wie ein Schwein.“
Mit jedem weiteren Besucher – Reiher, Gans, Papagei und Spatz – lassen Martin Baltscheit und Christine Schwarz die Gerüchteküche weiterkochen:Dem schlafenden Flamingo werden zunehmend monströsere Eigenschaften nachgesagt, die Tiere werden in ihren Zuschreibungen immer drastischer und die allgemeine Hysterie gipfelt in Ansichten wie der des Spatzen, der sicher ist, dass der Flamingo alle töten werde, oder in der des Storches, der immer schon wusste, dass Flamingos an allem schuld seien und ausgestopft gehörten.
Einen Lichtblick in „Schon gehört?“ stellt am Ende des Buches allein die Meise dar: Sie wünscht dem Flamingo eine gute Nacht und fliegt weiter. Und für alle Bilderbuchbegeisterten, die genau hinschauen, haben Martin Baltscheit und Christine Schwarz bei der allerletzten Abbildung noch eine Überraschung …
Was mir an dem Buch „Schon gehört?“ so gut gefällt:
Für mich gehört das Bilderbuch „Schon gehört?“ von Autor Martin Baltscheit und Illustratorin Christine Schwarz in meine ganz persönliche Kategorie „Das besondere Buch“: In kongenialer Verbindung von Wort und Bild wird eher minimalistisch, dafür aber umso klarer deutlich, was sogenannte üble Nachrede nach sich ziehen kann und wie sich Vorverurteilungen, Gerüchte, Gemunkel, Klatsch und Tratsch sowie handfeste Lügen zu einem vernichtenden Netz spinnen lassen, wenn nur genügend Beteiligte involviert sind …
Sehr bildgewaltig wird die Mutation des Flamingos von einem zarten, rosafarbenen Geschöpf in ein zähnefletschendes Monster dargestellt, denn von Seite zu Seite verwandelt sich der Flamingo in das, was die anderen aus ihm machen: ein Monster, einen Schuldigen, ein Übel. Assoziationen zu geschichtlichen und gegenwärtigen Phänomenen werden wach, bei denen die Verunglimpfung von Menschen zu extremem Unrecht und Leid führt und geführt hat. Aber auch die „kleinen“ üblen Nachreden und Vorverurteilungen, denen Menschen in ihrem Alltag ausgesetzt sind, werden in „Schon gehört?“ beschrieben. Martin Baltscheit und Christine Schwarz nehmen sich eines universell gültigen und wichtigen Themas an, das hier ebenso klug wie scheinbar einfach Ausdruck findet.
„Schon gehört?“ lässt sich auch mit Kindern (ab ca. 5 Jahre) vortrefflich lesen: Es bietet eine Fülle an Gesprächsstoff, schafft Erzählanlässe über die Erlebnisse der Kinder mit solchen und ähnlichen Situationen und hilft durch die explizite Darstellung, wie Stigmatisierungen entstehen und funktionieren, dabei, Muster zu erkennen und Situationen zu durchschauen, in denen diese Prozesse stattfinden – Aufklärung pur in einem erweiterten Sinne! Gesamteindruck: Martin Baltscheit und Christine Schwarz ist ein mutiges, kostbares, kluges Buch gelungen – nicht nur für Kinder, sondern für alle Menschen, die das Verstehen nicht verlernen möchten …